Ambulante Pflege – eine vertane Chance?

„Ambulante Pflege“ – heute ein gängiges Stichwort, das zwei Interessen der zu Pflegenden vereint: auch in einer schwierigen Lebensphase zuhause bleiben zu können und dennoch professionell versorgt zu werden. Im Zentrum steht also der Mensch, der pflegender Unterstützung bedarf.

So die – einfache – Theorie und das wesentliche Ziel ambulanter Pflege. Ein stationärer Aufenthalt, etwa in einem Krankenhaus oder in einem Pflegeheim, soll auf diese Weise vermieden werden. Zuhause fühlt sich der Mensch am wohlsten. Das vertraute häusliche Umfeld trägt wesentlich zur Besserung, Genesung und Wohlbefinden bei. Die Pflege richtet sich also prinzipiell an den Bedürfnissen des Menschen aus, der für seinen Alltag und seine Gesundheit Unterstützung in Anspruch nehmen möchte oder diese braucht.

Ambulante Pflege umfasst deshalb ein breites Spektrum von Tätigkeiten: Sie reicht von der Unterstützung in Fragen der Hauswirtschaft (z.B. Essen, Hausreinigung)  über die hygienische Versorgung (z.B. Morgenwäsche, Frisieren), Verabreichung medizinischer Hilfen (z.B. Verbandswechsel, Medikamentengaben) bis hin zur spezialisierten palliativen Versorgung (z.B. umfassende 24 Stunden Begleitung Schwerstkranker durch ein multiprofessionelles Team) oder zur Begleitung beimSterben.

Dabei versucht die ambulante Pflege – im besten Fall – weitere Personenkreise in der Pflege mit hinzuziehen und zu unterstützen: Angehörige, Freunde und Nachbarn, Ärzte, Seelsorger. Größere Pflegedienste verfügen auch über Mitarbeitende verschiedener Berufsgruppen, die die unterschiedlichen Anliegen der Betreuten aufnehmen können.

So weit die gute Idee, die in Deutschland herkommt von der – überwiegend Kirchengemeinden zugeordneten – Gemeindeschwester. Diese unterstützte pflegende Angehörige durch ihre fachlich pflegerische Kompetenz sowie durch ihre Einbindung in medizinisch pflegerische Netzwerke vor Ort (Arztpraxen, Krankenhaus, Pflegeheime, ehrenamtliche Haus- und Familienpflegevereine, Kirchengemeinde usw.). Meistens wurde sie aus Spenden, Entgelten und durch die Kirchengemeinden finanziert.

Angesichts des medizinischen Fortschritts, der zunehmenden Vereinzelung von Pflegebedürftigen (Auflösung des Großfamilienverbandes), der steigenden fachlichen Anforderungen und der Ausbildung eines flächen- und kostendeckendes Krankenversicherungssystems kam es nicht nur zu einer fortschreitenden Professionalisierung, sondern auch einer komplexeren Organisationsform der ambulanten, d.h. die Menschen zuhause aufsuchenden Pflege. Damit verschob sich das vormals ausschlaggebende Interesse am Menschen, der Unterstützung braucht, hin zu einem Geflecht aus Faktoren wirtschaftlicher (Kassen), medizinischer (Pflegestufen), pflegefachlicher (Multiprofessionalität und Qualitätsmanagement) und sozialpolitischer (Ausgestaltung und Finanzierung der Vorgaben aus den Sozialgesetzbüchern) Art, die die ursprüngliche Ausrichtung am Pflegedürftigen oftmals überdecken.

Pflege ist heute eingebettet in ein umfassendes und von Nichtfachleuten kaum zu entwirrendes Bündel aus Vorgaben. Grundsätzlich wird unterschieden zwischen

  • häuslicher Pflege: hierbei handelt es sich um – je nach festgestelltem Pflegegrad – Leistungen, die einen zuhause lebenden Menschen darin unterstützen, weiterhin möglichst selbständig zu agieren, finanziert nach Regelungen des SGB XI aus der Pflegeversicherung;
  • und Krankenpflege: hierbei handelt es sich, wie der Begriff nahelegt, um die Pflege eines Erkrankten, für den ein Arzt bestimmte Anwendungen verordnet hat, finanziert nach Regelungen des SGB V aus der Krankenversicherung.

Beide Pflegeformen können sich auch ergänzen. So kann z.B. zusätzlich zur Unterstützung bei der Körperpflege zugleich die Verabreichung von Insulinspritzen verordnet sein. Abgerechnet werden die Leistungen dann einmal über die Pflegeversicherung und zum anderen über die Krankenversicherung. Komplizierter wird der Fall, wenn bestimmte Leistungen nicht oder nur teilweise von den Versicherungen erstattet werden. Dann muss die Person, die Pflegeleistungen in Anspruch nimmt, diese Beträge selbst aufbringen oder aber das Sozialamt bei Nachweis der finanziellen Bedürftigkeit tritt ein. Nicht zuletzt, weil es hierbei um Geld geht, wurden die erbrachten Pflegeleistungen immer stärker ausdifferenziert, so dass teilweise Leistungen im Minutentakt erfasst und abgerechnet werden müssen (z.B. Haare kämmen im Unterschied zur Rasur; oder Spritze setzen im Unterscheid zur Tablettengabe).

Es versteht sich von selbst, dass sich die ambulante Pflege angesichts der hier genannten Beteiligten zu einem Feld ausufernder Bürokratie sowie Dokumentations- und Nachweispflichten entwickelt hat und zudem abhängig ist von Verhandlungsergebnissen auf übergeordneter Ebene z.B. zu Tarifen, Pflegesätzen, Wegstreckenentschädigungen, Qualitätsanforderungen, Nachweisen fachlicher Qualifizierungen usw. Mitarbeitende in der ambulante  Krankenpflege beklagen sich zurecht darüber, dass sie mindestens 30% ihrer Tätigkeit mit „Schreibkram“, nicht aber mit Menschen verbringen.

Versuche, die vorhandenen Leistungskataloge zu vereinfachen, zu verschlanken oder durch andere Bemessungskriterien zu ersetzen sind – bislang – in den Verhandlungen zwischen (freigemeinnützigen und privaten) Trägern von ambulanten Diensten, Kassen und dem Land (als Träger der Sozialhilfe) immer wieder gescheitert. Ferner hat die Privatisierung der Pflegedienste und die Abschaffung des Kostendeckungsprinzips Mitte der 90iger Jahre dazu geführt, dass insbesondere in Niedersachsen die Entgelte für Pflegekräfte ständig abgesenkt wurden, da dies für viele die einzige Möglichkeit zu sein schien, die Dienste am Markt konkurrenzfähig und – private Investoren! – gewinnträchtig zu betreiben. Die Bindung an einen Flächentarif sehen in Niedersachsen einzig die ambulanten Dienste von Diakonie, Caritas und AWO vor, alle anderen Dienste entgelten ihre Mitarbeitenden – von Einzelausnahmen wie z.B. den Leitungspositionen abgesehen – unter Tarif.

Das alles hat dazu beigetragen, dass

  • das Image der Pflegeberufe erheblich gelitten hat,
  • schon jetzt ein erheblicher Mangel an Pflegekräften sichtbar ist,
  • insbesondere in ländlichen Regionen eine Versorgung in der Fläche nicht mehr garantiert werden kann,
  • die Pflege weiterhin nahezu ausschließlich ein weiblich und damit (!) schlechter bezahlt ist
  • die absehbare demografische Entwicklung einen deutlich erhöhten Bedarf an Pflegenden erfordert
  • ein Ersatz fehlender einheimischer Pflegekräfte weder durch ausländische Pflegkräfte noch durch technischen Einsatz (Pflegeroboter, digitale Assistenzsysteme) ausgeglichen werden kann.

Fazit: Eine Reform der ambulanten Pflege ist überfällig!

(Dr. Christoph Künkel, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen bis 2017)