Quartiersarbeit
Das Quartier wird gerade wieder entdeckt. Kind sein im Quartier, alt werden im Quartier, sterben in vertrautem Umfeld. Was braucht der Mensch in dem Mikrokosmos, wo er lebt? Geschäfte, Ärzte, Schulen, Kitas, Seniorenheime, Gotteshäuser, Cafés, elementare Versorgung also – und viel mehr. Ein liebenswertes Quartier lebt von sozialen Beziehungen, ist ein Gemeinwesen. Das klingt einfach, ist aber in einer multikulturellen Welt, die sich permanent wandelt, ziemlich kompliziert.
„Es braucht das ganze Quartier“
Dr. Christoph Künkel (Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen bis 2017)
Wenn es in einem afrikanischen Sprichwort heißt, dass es „für die Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf braucht“, dann kann an ohne weiteres für die Situation Pflegedürftiger abwandeln: „Für einen selbstbestimmten und zugleich pflegebedürftigen Menschen braucht es das ganze Quartier“. Die Bewältigung von Lebenssituationen, die eine Pflege mit sich bringen, ist nicht von Einzelnen zu bewältigen, sondern gesamtgesellschaftliche Aufgabe, vor die jedes Mitglied einer Gesellschaft stehen kann und allein damit überfordert wäre. Pflege ist grundsätzlich und prinzipiell ein Akt gesellschaftlicher Solidarität. Dieser Gedanke ist bei einer Reform der Pflege in den Vordergrund zu stellen.

Zweisamkeit, Foto Axel Beyer
Pflege ist immer ein ganzheitliches, einen Menschen in seinen Lebensdimensionen aufbauendes Geschehen. Es darf nicht nur auf die körperliche Gesundheit abzielen, sondern richtet sich zugleich auf sein soziales Gefüge, sein geistiges und seelisches Wohlbefinden. Diese aber sind nicht in der Vereinzelung und auch nicht nur die Aktivitäten einzelner zu verwirklichen. Vielmehr ist anzuerkennen und in die Praxis umzusetzen, dass Selbstbestimmung ein Beziehungsgeschehen ist. Selbstbestimmung ist nur dann und insofern eine sinnvolle Kategorie, als sie in der Beziehung zu andern erlebt und gelebt wird. Sie wird im Zusammenspiel mit und in der Abgrenzung von anderen praktisch. Darin liegt, in modernen Kategorien ausgedrückt, das Ziel heutiger Pflege.
Sie stellt damit, ganz im Sinn des herkömmlichen Modells, den Menschen erneut in den Mittelpunkt und macht seine Anliegen und Bedarfe zum Ausgangspunkt weiter Überlegungen und praktischen Anstrengungen. Am Anfang einer Pflege steht damit nicht ein vorgefertigtes Konzept von Pflegeanwendungen, sondern die Frage: Was möchtest Du, dass ich mit Dir und für Dich tue?

Augenblick, Foto Axel Beyer
Damit ist es der Pflege wesensfremd, wenn sie primär unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gestaltet bzw. auf Gewinnerzielung abgestellt wird. Sie muss deshalb durchweg gemeinnützig gestaltet und organisiert werden.
Am Anfang einer Pflege steht eine umfassende Erhebung der Lebenssituation der Person, die Unterstützung für ihren selbstbestimmten Alltag sucht. Damit kommt nicht nur die medizinisch indizierte bzw. körperliche Situation in den Blick, sondern die vielfältigen Bezüge, in denen die Person lebt: ihr Quartier im weitesten Sinn. Das beginnt bei der Wohnsituation, bei familiären Bezügen und Beziehungen zu Nachbarn und Bekannten und hört bei Einkaufsgewohnheiten und Freizeitinteressen noch nicht auf. Leitend ist das Anliegen, möglichst viele der Lebensbezüge aufrecht zu erhalten und nach Möglichkeiten in die Pflegesituation als neuer Lebenssituation mit aufzunehmen. Dazu braucht es Personen, die

Lippenstift, Axel Beyer
- interkulturell gesprächskompetent sind
- die ganzheitliche Gesundheitssituation von Menschen erfassen können, da sie medizinisch, psychologisch und seelsorgend geschult sind
- die Pflege umfassend verstehen und möglichst fachübergreifend praktizieren können
- es verstehen, langfristig tätige Ehrenamtliche zu gewinnen und zu begleiten
- die im Quartier bestens vernetzt sind zu potentiellen Partnern im Pflegeprozess: von Medizinern über Personen mit speziellen Pflegekompetenzen, Anbietern für haushaltsnaher Dienstleistungen, Vereinen und Gruppierungen mit Angeboten für Pflegebedürftige und deren Angehörige
- Zeit haben für die Beratung und Erörterung von pflegerischen Anliegen.
Der Faktor „Zeit“ ist dabei von ausschlaggebender Bedeutung. Die Erprobung von Abrechnungsmodellen, die nicht nach Leistungskatalogen, sondern nach aufgewandter Zeit abrechnen, ist auszuweiten.
Ein solches Modell, das den hier skizzierten Ansatz in weiten Teilen verfolgt, ist das auf niedersächsische Verhältnisse angepasste Pflegemodell, das in den Niederlanden seit Jahren überaus erfolgreich praktiziert wird: „Buurtzorg“.
Die Fotos sind Teil einer preisgekrönten Serie von Axel Beyer. Sie zeigen seine Frau und seine Schwiegermutter, dokumentieren eine jahrelange häusliche Pflege. Quelle: Fotowettbewerb der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege https://www.bgw-online.de/SharedDocs/Toggle-Listen/DE/Medien-und-Service/Fotowettbewerb-2020/Fotowettbewerb-Platz-10.html